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Erlebnisbericht von Andrea* und Clemens*

INTERVIEW UND TEXT VON EVELYNE ZAHND. Aufgezeichnet im Frühjahr 2021

Wir erlebten und erleben durch die Pandemie gerade eine sehr herausfordernde Zeit mit Lockdowns, drohender oder tatsächlicher Erkrankung, Einschränkungen, vielen Fragen, Ängsten und Verunsicherung.

Wie erleb(t)en eigentlich Klient:innen unserer stationären Therapie diese Zeit? Wir haben reingehört ...

Du, Andrea, verbrachtest einen Teil dieser Zeit im Betreuten Wohnen. Und du, Clemens, bist kurz vor dem ersten Lockdown in die stationäre Therapie eingetreten. Wie habt ihr diese Zeit erlebt? Was war die grösste Herausforderung? Was habt ihr am meisten vermisst?

Andrea: Es war extrem schwierig. Wir durften keinen Besuch empfangen, niemand von ausserhalb der Institution durfte das Haus betreten, wir durften nirgends hin, ich durfte nicht mehr arbeiten gehen. Zwar war es anfangs gut, dass man in der WG immer jemanden um sich hatte, aber mit der Zeit ging man sich auch «auf den Keks». Man sitzt zu dritt in diesen vier Wänden, kann nichts machen, darf nicht raus und dazu kommt die Ungewissheit und man weiss nicht, wie es weitergehen wird.

Clemens: Der erste Lockdown war für mich eine grosse Belastung, vor allem die Ungewissheit löste viele Fragen in mir aus: Wie geht das weiter? Wann ist es vorbei? Heute habe ich mehr Erfahrung damit, d. h., es stresst mich nicht mehr so sehr. Was mich nach wie vor stört, ist, dass ich diese Maske dauernd tragen muss, obwohl ich mich mittlerweile auch daran gewöhnt habe.

Andrea: Vermisst habe ich vor allem die sozialen Kontakte, also die Familie nicht mehr sehen zu können und die Freunde, nicht mehr arbeiten gehen und mich frei bewegen zu können, ich fühlte mich wie eingesperrt.

Clemens: Für mich ist es vor allem die Situation von mir nahestehenden Menschen, die mich belastet. So litt z. B. meine Grossmutter im Altersheim sehr darunter, dass sie im Zimmer bleiben musste und keinen Besuch mehr empfangen durfte. Ja, und es stresst mich auch die allgemeine Situation, du kannst keine Konzerte besuchen, die Freizeit ist sehr eingeschränkt und ich denke, dass meine Rückfälle auch damit zu tun haben. Ich brauche eigentlich viel Sicherheit in meinem Leben, und stattdessen ist im Moment alles sehr vage.

Andrea: Der Eintritt ins Bewo ist ja an und für sich schon eine grosse Herausforderung. Man kommt mit wildfremden Menschen zusammengewürfelt in eine Wohnung, jede Person mit einer schwierigen Geschichte, mit grundsätzlich demselben Problem, nur zeigt sich rasch, dass die einen den Weg in die Abstinenz wirklich gehen wollen und die andern wollen oder vielleicht können das eher nicht. Ich hatte Glück, die Wohnung war super, ich hatte einen guten Mitbewohner, der auf der gleichen Schiene fuhr wie ich, der das Ziel der Konsumfreiheit auch fest vor Augen hatte. Das Herausfordernde war einfach, den Alltag zu bewältigen. Und für mich war und ist es – unabhängig von Corona – stets belastend, wenn jemand, den ich mag, auf Abwege gerät. Da war ich stark gefordert, mich genügend abzugrenzen und nicht selber abzudriften.

Habt ihr den Aufenthalt im Bewo bzw. in der Therapie hilfreich erlebt und fühltet ihr euch unterstützt?

Andrea: Auf jeden Fall! Insbesondere in Bezug auf das Thema Sucht. Ich glaube, ich hätte das nicht so meistern können, wenn ich während dieser Zeit nicht im Betreuten Wohnen, sondern allein in einer Wohnung gewesen wäre. Da wäre Konsum wahrscheinlich vorprogrammiert gewesen. Ich selbst habe in diesen 1,5 Jahren zusätzlich aufgehört zu rauchen und habe zudem fast 40 kg abgenommen und es geht mir damit viel besser. Ja, für mich persönlich war es gut.
Clemens: Also ganz ehrlich: nein. Was mich unterstützt, ist, dass ich arbeiten gehen kann. Aber sonst ist es eher belastend; man ist zusätzlich noch eingeschränkter. Unterstützung habe ich höchstens in den Bezugspersonengesprächen und so, und im Austausch mit Menschen, denen es ebenso geht. Das hilft schon. 

Gab es ein besonders einschneidendes Erlebnis während dieser Zeit?

Clemens: Nein, es hat ja auch keinen positiven Fall bei uns gegeben, aber halt immer wieder Massnahmen. Ich musste mich etwa drei Mal testen lassen. Es war immer negativ, trotzdem war es nervig.
Andrea: Als ich im Mai wieder hätte arbeiten gehen können, fiel ich zwei Monate aus, weil ich den Fuss operieren musste. Und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich da nie Suchtgedanken hatte, und auch die Frage «Wozu mache ich das alles eigentlich?» stellte sich mir oftmals, aber einschneidend? Nein, es wurde wirklich einfach mit der Zeit anstrengend und langweilig. Und ich musste einfach immer wieder stark und konsequent bleiben.

Gab es während dieser Zeit auch positive Erfahrungen, die euch persönlich weitergebracht haben und die ihr vielleicht als erfahrene Ressource ins «normale» Leben nach der Pandemie mitnehmen könnt?

Clemens: Ja, man ist fast gezwungen in die Demut zu gehen, also sich auch an kleinen Dingen zu freuen. Es gelingt mir zwar nicht immer, aber trotzdem. Und positiv erlebt habe ich im ersten Lockdown, dass wir viel mehr zusammen unternommen hatten und solidarischer unterwegs waren. Das ist jetzt leider weniger der Fall. Aber die Frage lässt sich dann wohl besser beantworten, wenn wirklich alles vorbei ist.
Andrea: Hm, ja, schwierige Frage. Das Positive am Ganzen war sicher, dass immer jemand da war, sei es jemand vom Team, seien es andere Mitbewohner, man war nie ganz allein.

Du, Andrea, hast ja vor knapp 3 Monaten den Aufenthalt im Bewo erfolgreich abgeschlossen und lebst jetzt wieder selbständig. Und du, Clemens, konntest vor ca. 8 Wochen vom Therapiestatus ins Bewo übertreten. Wie habt ihr diese Zeit des Wechsels erlebt? Wie geht es euch jetzt damit und welche Herausforderungen stellen sich euch heute?

Andrea: Ja, ich lebe jetzt in einer eigenen Wohnung. Das war allerdings eine Zangengeburt. Schon durch die Angabe des Vorvermieters, also suchttherapiebärn, war man abgestempelt und erst recht, wenn man keinen einwandfreien Betreibungsauszug vorweisen konnte. Ich habe ein halbes Jahr gesucht. Manuel (Fachleiter Sozialtherapie, Anm. der Red.) hat mich dabei sehr unterstützt und ich konnte ihn auch als Referenz angeben. So hat es schliesslich geklappt. Aber ich hatte mir schon ernsthaft überlegt, ob ich wirklich auf der ehrlichen Schiene weiterfahren soll, so verzweifelt war ich. Der Übergang in die Selbständigkeit war anstrengend – und ist es noch. Obwohl ich die Zeit im Bewo gut genutzt habe, und mich dort auch zuhause fühlte, spürte ich, dass es an der Zeit war weiterzuziehen. Und auch wenn ich dies als sehr belastend erlebte, war es doch der richtige Zeitpunkt. Ich bin sehr dankbar, dass es so ein Angebot gibt, aber irgendwie war ich einfach eine Stufe weiter. Inzwischen ist mein neues Heim wirklich mein Zuhause geworden und jetzt, wo die Möbelgeschäfte zum Glück wieder offen sind, kann ich auch noch fertig einrichten. Die Herausforderung, die ich vor allem fürchtete, war das Alleine-zuhause-Sein. Aber es geht erstaunlich gut und ich geniesse es sogar, einfach mal für mich entscheiden zu können. Auch mit dem Finanziellen klappt es, Ende Monat sind die Rechnungen bezahlt. Es ist wahnsinnig schön zu erleben, dass es so gut klappt. Dass ich nach wie vor in die Psychotherapie und in die Akupunktur gehe, hilft mir dabei sehr.
Clemens: Ich erlebe bis jetzt noch keinen grossen Unterschied, ausser dass ich weniger Einschränkungen habe. Abgesehen von meinen Rückfällen erlebe ich es grundsätzlich positiv. Die Hauptherausforderung bleibt die Suchtproblematik, alles andere habe ich eigentlich gut im Griff.

In den Medien wird berichtet, dass die soziale Isolation sich negativ auf das Suchtverhalten der Menschen auswirkt, dass viele Menschen in dieser Zeit zu Sucht- und Genussmittel greifen, um vor der Einsamkeit und «Leere» zu flüchten. Wie denkt ihr darüber?

Clemens: Ich kann das definitiv bestätigen. Absolut. Ich selbst merke, dass dies bei mir gerade auch am Wochenende Auslöser für Rückfälle ist. Auch in meiner Familie und bei Bekannten zeigt sich diese Tendenz deutlich.
Andrea: Ich weiss von mir: Grund zu konsumieren findet man immer. Klar ist es eine schwierige Situation, ich denke für alle. In meiner Familie driftete in dieser Zeit auch jemand in den Alkoholkonsum ab.

Was würdest du den Menschen raten, die vorher vielleicht kein Suchtproblem hatten und jetzt während der Pandemie vermehrt zu Alkohol oder sonstigen Substanzen greifen?

Andrea: Sich nicht schämen, sondern Hilfe annehmen. Man ist schnell in diesem Sumpf und merkt es meistens erst, wenns zu spät ist. Da kommt man alleine kaum noch raus. Einen übermässiger Konsum also nicht aus Scham verheimlichen. Das Umfeld merkt es eh bereits, dass du ein Problem hast, wenn du selbst es noch nicht einmal wahrhaben willst. Also rasch offen darüber reden und Unterstützung suchen.
Clemens: Ja, die Person selbst muss das natürlich auch wollen, aber ich würde ein Erstgespräch bei der Berner Gesundheit empfehlen. Ich selbst nutze dieses Angebot auch.

Angenommen die Pandemie ist zu Ende und das Leben, wie es vorher war, ist wieder möglich. Was werdet ihr als Erstes gerne tun?

Andrea: Ans Meer in die Ferien fahren und wieder mal mit der ganzen Familie an einem Tisch sitzen.
Clemens: Die Maske abnehmen.

Vielen Dank für das Gespräch und eure Offenheit, und alles Gute auf eurem weiteren Weg!  

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Andrea*


ist 41 Jahre alt und lebte vor und während dem ersten Lockdown im Betreuten Wohnen. Ende letzten Jahres hat sie eine eigene Wohnung bezogen und lebt dort selbstständig und abstinent.

Clemens*
 

ist 35 Jahre alt und kurz vor dem ersten Lockdown in die stationäre Therapie eingetreten. Er konnte anfangs Jahr ins Betreute Wohnen übertreten und arbeitet zurzeit extern im zweiten Arbeitsmarkt.

* Namen von der Redaktion geändert


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Die Stiftung suchttherapiebärn ist eine gemeinnützige Nonprofit-Organisation und betreibt seit 1972 sozialtherapeutische Einrichtungen für suchtmittelabhängige Menschen. Heute sind dies ein Therapieangebot für suchtmittelabhängige Einzelpersonen und Paare sowie ein Betreutes Wohnen.
Im Jahr 2000 wurde die Kindertagesstätte Zazabu eröffnet und bietet mit ihrem parkähnlichen und sehr kinderfreundlichen Garten zahlreiche Spielmöglichkeiten. Mittlerweile bestehen auf dem Geländer an der Muristrasse 28 drei altersgetrennte Gruppen für Kinder im Alter von 3 Monaten bis 6 Jahren. In der nahe gelegenen Tagigruppe an der Schosshaldenstrasse werden Kindergarten- und Schulkinder bis zur vollendeten 1. Klasse betreut.